Es war ein Dienstagnachmittag im Tchibo-Kaufhaus in Dortmund, irgendwann in den frühen 1970er Jahren. Während draußen die ersten Dieselfahrzeuge durch die Straßen schnurrten und in den Boutiquen Schlaghosen und Plateauschuhe auslagen, entdeckte ein Angestellter zwischen den Kaffeebohnen und Haushaltsgegenständen etwas Ungewöhnliches: eine Uhr, die aussah, als wäre sie von einem anderen Planeten gefallen. Achteckgehäuse, angedeutete Schrauben auf der Lünette, integriertes Metallband – das alles für lächerliche 40–50 Mark.

Was niemand ahnte: Diese scheinbar unbedeutende Uhr war das Produkt einer der faszinierendsten Nachahmungsgeschichten der Uhrmacherei, ein horlogisches Chamäleon, das die Grenzen zwischen Original und Hommage verschwimmen ließ.

Die Buler Astromaster war nicht das Werk eines kleinen Underdogs, sondern entstammte dem SSIH-Konzern – jenem Giganten, der gleichzeitig Omega-Speedmaster und Tissot-Navigator produzierte.

Wie ein Zauberer, der mit der linken Hand Kaninchen hervorzaubert, während die rechte bereits den nächsten Trick vorbereitet, testete dasselbe Schweizer Establishment über seine Tochtermarke Buler, ob sich revolutionäres Design auch demokratisieren ließ. Das Ergebnis war eine Uhr, die gleichzeitig alles und nichts war – ein horologisches Doppelgänger-Drama, bei dem niemand wusste, wer der wahre Zwilling war.

Die verborgene Architektur des Imperiums

SSIH: Der unsichtbare Puppenspieler

Die Geschichte beginnt nicht in einer kleinen Schweizer Werkstatt, sondern in den Vorstandsetagen des SSIH-Konzerns, wo Uhrmacher-Visionen auf Spreadsheet-Realitäten trafen wie Poesie auf Buchhaltung. Ende der 1960er-Jahre wandte sich der Konzern verstärkt dem Segment der „Pin-Lever-Uhren“ zu – jenen mechanischen Massenuhren, die in den Exportstatistiken bis in die 1970er-Jahre eine bedeutende Rolle spielten. Es war, als würde ein Michelin-Sterne-Koch beschließen, Döner zu verkaufen – nicht aus Not, sondern aus kalkulierter Gier nach Marktbeherrschung.

Buler war dabei nicht nur ein Zulieferer, sondern eine vollständige Tochtergesellschaft des Konzerns – der Clark Kent der Superman-Familie: unscheinbar, aber mit denselben Superkräften ausgestattet. Dies verwandelte die Astromaster von einer David-gegen-Goliath-Geschichte in ein faszinierendes Experiment industrieller Diversifikation – Goliaths eigener Versuch, sich selbst zu kannibalisieren, bevor es andere taten.

Die Baumgartner-Connection: Ingenieurskunst für die Massen

Im Herzen der Astromaster tickt das Baumgartner 582, ein Werk, das wie ein überdurchschnittlich begabter Realschüler funktioniert: nicht Harvard-Material, aber zuverlässiger als mancher Akademiker. Aus der Produktion von Baumgartner Frères Granges – einem der größten Werkehersteller der Schweiz mit vier Fabriken – war es kein primitives Billigwerk, sondern eine durchdachte Ingenieursleistung für den Massenmarkt.

Mit nur zwei Steinen und rund 21.600 Halbschwingungen pro Stunde verkörperte es die Philosophie des funktionalen Minimalismus: wie ein japanischer Zen-Garten aus Zahnrädern – weniger ist mehr, solange es funktioniert. Die Ironie der Geschichte: Während andere Schweizer Hersteller verzweifelt gegen die Quarz-Revolution ankämpften wie Ritter gegen Windmühlen mit Atombetrieb, hatte Baumgartner bereits das perfekte „Wegwerfwerk“ entwickelt – günstig genug für Tchibo, aber Swiss Made und zuverlässig genug, um 50 Jahre später noch zu ticken.

Das Baumgartner 582 war der ehrliche Arbeiter unter den Uhrwerken: kein Adeliger, aber einer, der jeden Morgen pünktlich zur Arbeit erscheint, während die Luxuskomplikationen noch ihren Kaffee schlürfen.

Das Gérald-Genta-Rätsel: Paralleluniversum oder Kopie?

Die zeitgleiche Geburt zweier Ikonen

1972 war ein Schicksalsjahr für die Uhrmacherei – ein zeitmesserischer Urknall, bei dem aus einer einzigen Designidee zwei Universen entstanden. Während Gérald Genta sein revolutionäres achteckiges Design für die Audemars Piguet Royal Oak vollendete, tauchte in den frühen 1970ern auch die Buler Astromaster mit ähnlicher Formensprache auf. War das Zufall? Industrielle Spionage? Oder der seltene Fall, dass zwei Genies gleichzeitig denselben verrückten Gedanken hatten – wie Leibniz und Newton bei der Infinitesimalrechnung, nur mit mehr Stil und weniger Mathematik?

In Sammlerkreisen kursieren Spekulationen über mögliche Verbindungen zur Royal Oak-Entstehung – belastbare Belege dafür gibt es allerdings nicht. Ein erfahrener Uhrensammler formuliert es treffend: „Es ist offensichtlich, dass die Royal Oak qualitativ produziert wurde, während Buler für den Massenmarkt produzierte … aber das macht die Uhr nicht weniger ‚real‘, sondern eher unabhängig.“

Die Astromaster war kein billiger Abklatsch, sondern ein paralleles Experiment – der Robin zu Gentas Batman, wenn man so will, nur dass beide von derselben Wayne Corporation finanziert wurden.

Die revolutionäre Ästhetik des Alltäglichen

Demokratisierung des Unmöglichen

Das 39-Millimeter-Gehäuse aus verchromtem Stahl thront wie ein geometrisches Gedicht am Handgelenk – ein architektonisches Statement, das aussagt: „Ich bin zwar nicht aus Gold, aber meine Proportionen sind göttlich.“ Die acht Schrauben auf der oktogonalen Lünette sind keine billige Täuschung, sondern eine ehrliche Hommage – wie ein Straßenmusiker, der Paganini spielt: technisch vielleicht nicht perfekt, aber mit einer Leidenschaft, die das Publikum zum Weinen bringt.

Das schwarze Zifferblatt mit seinen weißen Stabindizes spricht eine Sprache der Klarheit – das horologische Äquivalent zu einer Hemingway-Erzählung: kurz, prägnant, und jedes überflüssige Wort wurde gnadenlos gestrichen. Keine Komplikationen, keine Ablenkungen, nur die reine Essenz der Zeit, reduziert auf das Wesentliche wie ein Haiku aus Stahl.

Das integrierte Stahlband war funktional, aber einfach gehalten - ein gestempeltes Stahlband mit rudimentärer Verstellmöglichkeit, das die SSIH-Philosophie widerspiegelte, auch bei günstigen Modellen auf solide Verarbeitung zu achten, ohne jedoch moderne Annehmlichkeiten zu bieten.

Das Tragegefühl: Zwischen Bescheidenheit und heimlichem Stolz

Eine Astromaster zu tragen bedeutet, sich zu einem horologischen Geheimbund zu bekennen. Das Gewicht ist solide, ohne zu protzen – wie ein gut erzogener Aristokrat, der nie erwähnt, dass seine Familie das halbe Dorf besitzt. Das polierte Gehäuse reflektiert Licht wie ein stiller See, während die gebürsteten Flanken Tiefe suggerieren

Der Handaufzug entwickelt beim Aufziehen ein befriedigendes Klicken – das mechanische Äquivalent zum Knacken der Fingerknöchel vor einer wichtigen Aufgabe. Es ist ein tägliches Ritual der Verbindung zwischen Träger und Zeitmesser, wie das Füttern eines treuen, aber etwas eigenwilligen Haustieres.

Die Astromaster verwandelt ihren Träger in einen stillen Rebellen mit Schweizer Pass: Während andere mit Gold und Diamanten prahlen wie Pfauen im Frack, setzt sie auf die Kraft der Understatement-Eleganz. Es ist die Uhr des Kenners, der weiß, dass wahre Klasse flüstert, während Neureiche schreien – und manchmal ist das Flüstern lauter als jeder Schrei.

Die Tchibo-Revolution: Luxus zwischen Kaffeebohnen

Sozialer Sprengstoff im Einzelhandel

Zeitzeugenberichte in Foren zufolge wurde die Astromaster um 1973/74 bei Tchibo angeboten – für rund 40 bis 50 DM. Während AP die Royal Oak für 3.650 Schweizer Franken verkaufte, bewegte sich die Astromaster damit in einer völlig anderen Sphäre. Das war nicht nur eine andere Preisklasse, sondern eine andere Philosophie – als würde man Kaviar im Supermarkt neben den Fischstäbchen verkaufen, nur dass der Kaviar echt war.

Tchibo war der perfekte Vertriebspartner für dieses Experiment – ein Unternehmen, das bereits bewiesen hatte, dass Deutsche alles kaufen, solange es neben gutem Kaffee steht. Die Astromaster neben Kaffeebohnen und Haushaltsgegenständen zu platzieren war ein Geniestreich: Sie wurde zur „Zufallsentdeckung“ für Menschen, die nie eine Uhrenboutique betreten hätten – wie ein horologisches Blind Date zwischen Arbeiterklasse und Schweizer Präzision.

Die soziale Alchemie der Zufallsentdeckung

Hier geschah etwas Revolutionäres: Design wurde vom sozialen Status getrennt wie Kirche vom Staat. Plötzlich konnte ein Facharbeiter eine Uhr tragen, die optisch mit der Royal Oak konkurrierte – ohne sich verschulden oder seine Seele an den Uhrenteufel verkaufen zu müssen. Es war Demokratie in ihrer reinsten Form: technische Exzellenz für alle, statt nur für jene, deren Bankkonto so gut gefüllt war wie ihr Ego.

Das Ende einer Ära: Pin-Lever gegen Quarz

Die letzten mechanischen Mohikaner

1970 standen Stiftankeruhren an der Schwelle zur Quarz-Revolution – die letzten Cowboys in einer Welt, die sich für Raumschiffe entschieden hatte. Sie waren die Vertreter einer mechanischen Welt, die sich dem elektronischen Zeitalter widersetzte wie Don Quijote den Windmühlen, nur mit mehr Erfolg und weniger Wahnsinn.

Ironischerweise überlebten viele Stiftankeruhren die Quarzkrise besser als komplexere mechanische Werke – wie die Kakerlaken der Uhrenbranche: nicht die schönsten, aber die überlebensfähigsten. Das Baumgartner 582 verkörpert diese Endzeitromantik perfekt: robust genug für den Alltag, einfach genug für die Massenproduktion, aber mechanisch genug, um das Herz von Uhrenliebhabern höherschlagen zu lassen – ein Überlebenskünstler mit Schweizer Tugenden.

Die stille Parallele zur Haute Horlogerie

Während die Astromaster als „Billigprodukt“ vermarktet wurde, teilte sie fundamentale DNA-Stränge mit den teuersten Uhren ihrer Zeit – wie ein uneheliches Kind, das die gleichen blauen Augen hat wie der reiche Onkel. Die oktogonale Form, das integrierte Band, die klare Zifferblattgestaltung – all das waren Merkmale, die gleichzeitig bei Audemars Piguet die Zukunft der Luxusuhrmacherei definierten.

Die Astromaster bewies: Gutes Design ist nicht eine Frage des Bankkontos, sondern der Vision – und manchmal hat der arme Cousin die besseren Ideen.

Die Neubewertung: Vom Wegwerfprodukt zum Kultobjekt

Der heutige Wert des Vergessenen

Heute, ca. 50 Jahre später, wechseln Astromaster-Uhren für 80 bis 200 Euro den Besitzer – ein Preis, den manche für eine Tankfüllung zahlen, während sie ein Stück Geschichte erwerben könnten. Sie sind zu Liebhaberstücken geworden – nicht wegen ihrer technischen Perfektion, sondern wegen ihrer ehrlichen Einfachheit, die in einer Welt hypergenauer Smartwatches und siebenstelliger Sammlerpreise wirkt wie ein handgeschriebener Brief in der E-Mail-Ära.

Die geringe Produktionszahl macht sie heute seltener als manche Patek Philippe – ein Paradox, bei dem das „Billigprodukt“ von gestern ein potenzielles Sammlerobjekt von heute ist. Man beginnt zu verstehen, dass die Astromaster nicht nur eine günstige Alternative war, sondern ein eigenständiges Kapitel der Uhrmacher-Geschichte – das Kapitel von der Demokratisierung des Luxus, geschrieben in einer Sprache, die alle verstehen konnten.

Die gesellschaftliche Alchemie des Widerspruchs

Was die Astromaster so faszinierend macht, ist ihre fundamentale Ambivalenz – sie war gleichzeitig Produkt des Schweizer Establishments und Rebellion dagegen, wie ein Revolutionär, der im Palast aufgewachsen ist. Sie verkörperte sowohl die Industrialisierung der Uhrmacherei als auch deren handwerkliche Tradition – ein Widerspruch, der heute faszinierender erscheint denn je, wie ein Zen-Koan aus Stahl und Zeit.

Epilog: Das Phantom und seine Wahrheit

Die Buler Astromaster war nie eine Hommage oder Kopie – sie war ein paralleles Experiment desselben Schweizer Establishments, das auch die Royal Oak hervorbrachte, wie ein horologisches Jekyll-und-Hyde-Drama, bei dem beide Persönlichkeiten gleichzeitig existierten. Während AP den Luxusmarkt eroberte, testete SSIH über Buler, ob sich Gérald Gentas revolutionäres Design auch demokratisieren ließ.

Das Ergebnis war eine Uhr, die technisch ehrlich, ästhetisch mutig und sozial revolutionär war – ein horologisches Manifest, geschrieben in der Sprache des Alltags.

Sie beweist, dass die interessantesten Geschichten nicht immer in den Chroniken der Luxusmarken stehen, sondern in den vergessenen Winkeln der Uhrmacherei schlummern wie verborgene Schätze in Großmutters Dachboden. Die Astromaster ist ein Zeitzeugnis der industriellen Transformation, ein Manifest der Design-Demokratisierung und ein Beweis dafür, dass Innovation oft auch dort entsteht kann, wo die Scheinwerfer nicht hinleuchten.

In einer Welt voller uhrmacherischer Könige war sie der ehrlichste Narr mit dem schärfsten Verstand – und heute, da wir ihre wahre Geschichte kennen, erweist sie sich als die vielleicht revolutionärste Uhr ihrer Zeit. Nicht weil sie die teuerste oder technisch ausgefeilteste war, sondern weil sie als erste bewies: Luxus ist nicht eine Frage des Preises, sondern der Vision. Und manchmal findet man die wertvollsten Visionen zwischen Kaffeebohnen und Haushaltsgegenständen, wie Diamanten im Kohlebergwerk, an einem ganz gewöhnlichen Dienstagnachmittag.

Spezifikationen

  • Marke: Buler (SSIH-Gruppe, Schweiz)
  • Kollektion: Astromaster
  • Modell/Referenz: keine einheitliche Referenznummer, Serien ab ca. 1974
  • Gehäuse: ca. 38–39 mm Ø · ~11 mm Höhe · Edelstahl verchromt (selten Vollstahl) · verschraubter Boden · spritzwassergeschützt (keine echte Taucher-Spezifikation)
  • Zifferblatt: meist blau oder schwarz, teils Sonnenschliff · applizierte Indizes mit Leuchtpunkten · Datumsfenster bei 3 Uhr
  • Zeiger: Stabzeiger oder „Baton“-Zeiger · Leuchtmasse (Tritium) · zentrale Sekunden
  • Lünette: Feste Lünette mit acht angedeuteten „Schrauben“ (Royal-Oak-Stil)
  • Glas: Mineralglas (flach, unentspiegelt)
  • Kaliber: ESA 9181/9184 (ETA-basiertes Quarzwerk der 70er) oder wahlweise mechanische Handaufzugswerke in frühen Chargen
  • Krone: Nicht verschraubt, Standard-Position bei 3 Uhr, teils signiert
  • Armband: Integriertes Metallband im „Genta-Stil“ · gefaltet oder massiv, Edelstahl oder verchromt · Bandanstoß integriert (keine Standardbreite)
  • Limitierung: Keine – Serienmodell, Massenware, v. a. als Kaufhausware (z. B. Tchibo) vertrieben
  • Preis (1974): ca. 40–60 DM im deutschen Einzelhandel
EINORDNUNG